Dieses Mal verstreichen nur 4 Monate bis ich wieder die Türkei besuche. Ich komme wieder in den „vor Pandemie“- Rhythmus zurück, mich im Frühling um treat you’s Sommerkollektion direkt vor Ort zu kümmern. Ungewöhnlicherweise ist es in der Türkei kälter als in der Schweiz. Zum Glück bin ich nicht eine Woche früher gekommen, da lag ein paar Tage Schnee in Istanbul, das wäre ziemlich chaotisch geworden.

Istanbul und der „gelbe Terror“

Ich nehme mir in Istanbul einen Tag Zeit meine türkischen Freunde zu treffen um die letzte Neuigkeiten auszutauschen. Nach ein paar Stunden Schlaf beginnt der neue Tag schon um 4 Uhr morgens, da ich auf den berühmten 6.50 „Early Bird“ Flug nach Denizli will.
Mit einem sehr zuvorkommenden Taxifahrer der pünktlich bereit steht, komme ich dank geringem Verkehrsaufkommen zügig durch die Stadt und zum Flughafen .

Tagsüber kann es in Istanbul zur Zeit schwierig sein ein Taxi zu finden, weil es in der 16 Millionen Metropole zu wenig Fahrer hat. Viele haben den Beruf aufgegeben, da es während der Pandemie zu wenig Fahrgäste gab und sie für die Unterhaltskosten und Lizenzen trotzdem aufkommen mussten. Ausserdem halten die Fahrpreise nicht mit der Teuerung mit, so verdienen sie im Verhältnis weniger als vorher.
Es kann zu unangenehmen Szenen mit Fahrern kommen, weil sie versuchen einem irgendwie über’s Ohr zu hauen, oder für kurze Strecken einen viel zu hohen Fahrpreis verlangen. Deshalb haben sie den schlechten Übernamen “der gelbe Terror” bekommen, wie mir ein Freund berichtet.

Es sind wieder bedeutend mehr Touristen unterwegs und ich komme gerade rechtzeitig durch die Sicherheitskontrollen auf den voll ausgebuchten Flug im Sonnenaufgang gegen Süden.

Neuigkeiten der Stiftung und Situation Türkei

Nach der Ankunft würde ich mich am liebsten im Hotel eine Stunde hinlegen, aber die Heizung ist noch nicht eingeschaltet. Ich will schnell weg und gehe weiter zum warmen Geleyli Café. Dort finde ich Meryem die Gründerin der Buldan Stiftung mit ihren Studentinnen Hatice, Fatosh und Ilkay am arbeiten ist. Sie erzählen, dass die Gegend einen sehr kalten Winter hinter sich hat und dass es im März meistens frühlingshafter ist. Mir kommt das Szenario bekannt vor, aber bei meinem damaligen Besuch vor drei Jahren war es erst Ende Februar. Ich habe ein paar warme Kleider eingepackt, doch in den ungeheizten Räumen der Häusern friert’s einem trotzdem. 

Wir unterhalten uns über die immer noch rasant steigende Inflation. Der Wert der türkischen Lira ist seit meinem letzten Aufenthalt vor 4 Monaten nochmals um 50% gefallen und die Preise von Nahrungsmitteln, Kohle, Gas und Benzin um das dreifache gestiegen. Das alles ist noch ohne den Einfluss des Krieges in der Ukraine gerechnet, diese Konsequenzen folgen hier erst noch. Ich kann mir gar nicht vorstellen wie sich die ärmeren Leute hier ihr Leben noch finanzieren können. Auch die Preise des Fadens zum Weben steigen ständig, was auch wiederum den Einkaufspreis der Tücher beeinflusst. 

Zurück zur Stiftung: Meryem erzählt begeistert vom Antalya Marathon, wo sie durch ihre Teilnahme viele Spenden über die Plattform Adim Adim mit ihrem Projekt “unsere Töchter werden studieren” sammeln konnten. Meryem hat die Stiftung mit vier anderen Mitgliedern in 2015/16 gegründet. Sie haben damals finanziell 14 Studenten/-innen unterstützt, um ihnen ein Studium ermöglichen. Durch ihren unermüdlichen Einsatz konnte sie die Unterstützung auf heute 100 Studentinnen ausweiten und 33 haben ihren Abschluss schon geschafft. Bravo Meryem! 

treat you untestützt die Stiftung seit 2017 mit einem Beitrag der Verkäufe der Pestemals und Bademäntel. Ich freue mich sehr über ihre Erfolge und dass Beharrlichkeit und Glaube an die Werte der Stiftung Früchte trägt. Mehr dazu in den Blogbeiträgen “Tücherverkauf mit Tiefgang” und “Unterstützung des neues Projektes der Buldanstiftung”. 

Bei Nurai und Femi

Einige starke türkische Tees und Cafes später, um meine Müdigeit zu kaschieren, gehe ich zu Nurai und Femi weiter. Er hat leider im Dezember einen Herzinfarkt erlitten, deshalb konnten sie meine letzte Pestemalbestellung erst verspätet anfangen zu weben. Hauptsache er ist wieder wohlauf und kann seinem normalen Leben nachgehen. Wir trinken in ihrem Garten an der Sonne einen Cafe zusammen und ich versuche Nurai’s schnelles Reden zu verstehen. Da ich in der Schweiz selten türkisch spreche, bin ich leicht aus der Übung geraten. So habe ich Mühe sie zu verstehen, da sie mit mir im gleichen Tempo wie mit einer Einheimischen redet . Die Tücher sind fast fertig und ich bestaune die tollen Farben die ich letztes Mal ausgesucht habe.

Eine tolle Überraschung

Die Türkei ist immer voller Überraschungen. Fatma wird heute Abend eine Auszeichnung vom Denizli Rotary Club bekommen für ihren Beitrag zum Erhalt der lokalen historischen und kulturellen Werten, durch ihre Handwebekunst. Ich werde nun spontan angefragt ob ich auch teilnehmen möchte. Selbstverständlich lasse ich mir das nicht entgehen, obwohl ich nach dem langen Tag nicht mehr sehr frisch bin. 

Mit Meryem und einer stolzen Fatma fahren wir zum Rotary Treffen nach Denizli, wo ich “the underdressed Swiss guest” bin. Die Leute ziehen sich gerne für solche Gelegenheiten schön an und ich bin kleidertechnisch nicht auf einen formalen Anlass vorbereitet. Aber egal, es geht ja um Fatma und ihre professionelle Auszeichnung und nicht um mein Outfit 😉 Wir sind sehr stolz auf sie und geniessen das tolle Nachtessen.

Zurück im Hotel stelle ich mit Schrecken fest dass die Heizung der Klimaanlage nicht genügt um den kalten Raum aufzuwärmen. So falle ich erst mit einiger Verspätung eingepackt mit Wollpullover und Kappe endlich in meinen ersehnten aber unruhigen Schlaf. Wahrscheinlich ist mein Koffeinspiegel immer noch zu hoch…

Letzter Atemzug des Winters, Diskussionen

Am nächsten Morgen ist stockdichter Nebel und bald beginnt es zu regnen. Nach einigem Fluchen über den kalten Fussboden und einem überschwemmten Badezimmer mit lauwarmer Dusche treffe ich im Geleyli Café Fatma und Meryem. Wir freuen uns über den gestrigen gelungenen Abend. 

Fatma zeigt mir einige ihrer neuen handgewobenen Tücher. Im Moment hat sie nicht sehr viel Zeit zu weben, da sie beschäftigt ist mit Grosskindern und Hochzeitsvorbereitungen. Ihre andere Tochter heiratet im Juli. Ausserdem webt sie generell im Winter weniger, weil ihr kleines Atelier ungeheizt ist. 

Das Wetter ladet nicht zum Frühlingsbummel ein, so gehe ich nur kurz nach draussen und warte dann auf Ibrahim und seine Mutter. Wir haben einiges zu diskutieren betreffend der letzten Bestellung, wo es unter anderem Probleme mit der Speditionsfirma gab. Da sie verspätet eintreffen, ist Meryem schon wieder im einem nächsten Meeting und kann beim Übersetzen nicht helfen. So bin ich mit den beiden alleine und sie reden aufgeregt auf mich ein. Ich bin mit dem Sprechtempo überfordert, aber wir können uns nach einigem Hin und Her einigermassen verständigen. Als Meryem endlich Zeit hat, erklären sie ihr alles nochmals und laufen betreffend Lautstärke und Animation zur Hochform auf. Wir können uns aussprechen und werden auch weiterhin zusammenarbeiten. 

Ich mache mich auf den Weg nach Pamukkale, um mich in einem besser ausgestatteten Hotel mit guter Heizung und im lokalen, berühmten Thermalwasser zu entspannen. 

Audit

Am nächsten Morgen nehmen mich Meryem und Hatice zu einem Audit mit. Dem muss sich die Buldanstiftung einmal im Jahr unterziehen, weil sie non-profit ist. Wir kaufen unterwegs in einem kleinen Laden eine Schachtel mit feinem Gebäck ein. Ich kann mir die Frage nicht verkneifen, ob dies das Bestechungsmittel für ein erfolgreiches Audit sei. Worauf ich grosses Gelächter ernte und Meryem erklärt mir, dass die Buchhalterin diese Arbeit für sie umsonst mache und sie sich so bedanken möchten.  Zurück im Café essen wir zusammen zu Mittag und knipsen zum Abschluss noch ein paar Erinnerungsbilder.

Spontane Bekanntschaft

In einem Laden im Dorf komme ich per Zufall mit einem älteren Mann ins Gespräch. Er webt schon seit klein auf und da ich grosses Interesse an seiner Expertise habe, zeigt er mir sein Atelier. Er hat zwei halbautomatische Webstühle („Black Looms“), die während des Webvorgangs permanente Aufsicht brauchen. Einen alten Jacquard Webstuhl und einen zweiten mit Holzlochkarte, welche das Webmuster vorgibt. Mehr über den „Black Loom“ ist im Blogbeitrag „Funktionsweise des halbautomatischen Webstuhls“ beschrieben.

Er redet langsam und deutlich mit mir und macht sogar einige Pantomimen um sich zu verständigen. Ich bin höchst erfreut darüber, dass ich ihn gut verstehen kann.

Er denkt, dass diese Arbeit keine grosse Überlebenschance hat, weil die grösseren Firmen den lokalen Webern wenig für die Tücher bezahle. So verdiene die jüngere Generation zu wenig, um davon leben zu können. Er sei alt und könne nebenbei ein wenig weben um seine Rente aufzubessern. Er arbeite nicht mehr viel, da es für ihn anstrengend sei dauernd neben dem Webstuhl zu stehen, um den Webvorgang zu kontrollieren. Aber für ihn stimme es so, weil er sonst  den ganzen Tag im Café sitzen und Geld ausgeben würde.

Ich muss an mein Treffen mit Ibrahim vor 6 Jahren denken, wo wir ähnliches diskutiert haben. (Blogbeitrag “Verliert die Türkei ihre jahrhundertalte Webertradition?”) Inzwischen habe ich ein paar jüngere Weber getroffen, die dieses Handwerk weiterhin ausüben wollen. Ohne Hilfe einer grösseren Firma kann es aber schwierig sein Marketing, Verkauf, Administration und insbesondere den Versand alleine zu organisieren. 

Abschluss

Das Wetter ist heute einiges freundlicher und ich erfreue mich über die wärmeren Temperaturen. Ich treffe nochmals kurz Nurai und Femi und wir besprechen einige formelle Details der Bestellung. Glücklich mache ich mich auf nach Pamukkale, wo ich am nächsten Tag die antiken Städte Hierapolis und Laodikeia ansehen möchte. 

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